Annett Reckert: Oberflächentrugschlüsse
Lange Zeit gehörte zu den alltagstauglichen Gewissheiten
eine Vorstellung von Kommunikation, Verstehen und Erkennt-
nis, die in ein verhältnismäßig einfaches Sender-Empfänger
modell mündete. Aus dem vermeintlichen Paradies dieser
eindimensionalen Struktur, die aus einem rein technisch-
naturwissenschaftlichen Denksystem in die Kommunikations-
wissenschaft und ein allgemeines Bewusstsein diffundiert
war, sind wir jedoch längst vertrieben. Die Dinge sind
weitaus komplizierter: Kommunikation hat nichts mit dem
Austausch von Informationen zu tun. Es gibt keine Infor-
mationen, die sich leichtgängig durch Kanäle schieben,
austauschen und verarbeiten lassen. Vielmehr ist es unser
Gehirn, das all jenes konstruiert, was bewusst als Laute
und Bilder, als Geschmack oder Geruch wahrzunehmen
ist. Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn.
Auf diese Sentenz lässt sich der Fall zusammendampfen.
Das Gehirn spielt also die entscheidende Rolle. Es muss
die durch Umwelteinflüsse bedingten Veränderungen der
Sinnesorgane in seine Sprache übersetzen. Im Prozess der
Kommunikation sind somit nicht etwa Bilder und Botschaften
unterwegs sondern zunächst nichts anderes als vollkommen
unspezifische (elektromagnetische) Wellen, Schall oder
Druck. Menschen, so lautet die Kernthese des Radikalen
Konstruktivismus, sind autopoietische, selbstreferentielle
und operational geschlossene Systeme. Sie können nur
indirekt Kontakt zur Außenwelt aufnehmen und ihr
Erkenntnissystem bildet keineswegs die äußere Realität
wahrheitsgemäß ab, vielmehr erzeugt und erfindet jeder in
jedem Moment seine eigenen Wirklichkeiten. So ist es
geradezu verwunderlich, dass sich statt des so irreführenden
Wortes Wahr-nehmung nicht besser der Begriff Eigen-gebung
eingebürgert hat. Denn eigentlich sind die Erkenntnisse des
Konstruktivismus alles andere als neu. Philosophen, allen
voran Sextus Empiricus im 3. Jahrhundert n. Chr., hatten
längst ähnliche Thesen vertreten. Allein was fehlte, waren die
unumstößlichen Belege. Und die liegen nun auf dem Tisch,
geliefert aus den Laboratorien von Physikern, Kybernetikern,
Biologen und Neurophysiologen. Denker und Forscher wie
zum Beispiel Heinz von Foerster, Humberto Maturana,
Francisco Varela, Ernst von Glasersfeld oder Gerhard Roth
warten mit einer erdrückenden Beweislast auf: mit der Biologie
der Realität.

"Biologie der Realität" ist auch der Titel einer Installation
Susanne Stövhases. Diese besteht im Kern aus einem kleinen
Fernsehgerät und einem passend dimensionierten Wohnwagen-
modell. Dieser kleine, schneeweiße Wohnwagen parkt
unmittelbar vor dem Bildschirm des Fernsehers. Es ist ein
Einachser, der auf die essentiellen Merkmale seiner Gattung
reduziert ist. Wer nun sehen will, was im Fernsehen läuft, muss
sich der eigenartigen, noch dazu durch zwei schwarze Kabel zu
einem absurden 'Schaltkreis' gekoppelten Paarung, im wahrsten
Sinne des Wortes geneigt zuwenden. Schließlich 'glotzt' der
kleine Fernseher in den Wohnwagen hinein und nur durch eine
Fensteröffnung des Vehikels ist wiederum für den Betrachter
der Blick auf dessen Bildschirm möglich. Dort sind nun nicht etwa
Bilder zu sehen, sondern ein in weißer Schrift auf schwarzer
Mattscheibe laufendes Textband, das Theoretisches offeriert.
Ausgerechnet ein Fernsehgerät, der Inbegriff des
Sender-Empfänger-Modells, zeigt Theoriezitate, die aus dem
Denkraum des Konstruktivismus stammen. Dort ist in einer
unverhohlenen Widersprüchlichkeit zu den Verheißungen des
Mediums zu lesen: "Zwischen Sender und Empfänger bewegen
sich lediglich Veränderungen irgendeiner Art von physikalischer
Energie, die als 'Signale' bezeichnet werden". Damit ist das
'Fenster zur Welt' in seiner informativen und selbst ausgerufenen
aufklärerischen Rolle in Frage gestellt. Was folgt, sind aneinan-
dergereihte, mit Blick auf Autoren und Quellen nicht ausgewie-
sene Zitate. Offensichtlich verfolgt Susanne Stövhase keine
Durchführung eines stringenten Gedankenganges. Vielmehr
zeigt der Monitor prägnante Fundstücke, die sie aus dem
theoretischen Feld des Konstruktivismus herausgelöst hat. Vor
dem Hintergrund des nagenden Zweifels auch am Medium Text
als Informationsvermittler, ist dieses Verfahren schlüssig. Denn
längst gilt der Sinn des Textes nicht mehr allen "als autoritativ
vorgegeben, sondern als einem produktiven Verstehen zur
Suche aufgegeben." (Hans Robert Jauß) Schließlich war
schon vor Jahrzehnten der Tod des Autors ausgerufen. Damit
war auch der Anspruch einen Text interpretativ entziffern zu
wollen, zu einer Bemühung unter falschem Vorzeichen erklärt.
Roland Barthes proklamierte 1968: "Die Geburt des Lesers muß
mit dem Tod des Autors bezahlt werden." So ist es nur konse-
quent, wenn Susanne Stövhase ihr Zitatangebot als unverblüm-
tes Sampling gestaltet, um dann offensiv ihr Verfahren des
(nicht zwingend notwendigen, aber doch nicht unwahr-
scheinlichen) Oberflächentrugschlusses auch dem
Betrachter/Leser als produktives Verfahren anzuempfeh-
len. Einer Überlast der sprichwörtlich grauen Theorie wirkt
sie mit der ästhetischen Gestalt ihrer Gesamtinstallation
entgegen. Im gleichen Zuge kompensiert sie die Konsequen-
zen, die der Furchtsame aus den Theorien des Radikalen
Konstruktivismus ziehen könnte: die Vereinsamung in der
operationalen Geschlossenheit, die Normalität des
Missverstehens und die Grenzen von Empathie und
Verständigung. Es sind die den geloopten Text begleitenden
Rumba-Rhythmen, die unweigerlich eine Erinnerung an
Bewegung und Tanz, an Körperlichkeit und Emotionalität
hervorrufen. Die Musik lockt und beschwingt. Sie konstituiert
das merkwürdige Wohnwagen-TV-Ensemble als ein Objekt
der Zuwendung, und einen ähnlichen Effekt hat die
Miniaturisierung des Vehikels, der Spielzeugcharakter,
die glatten Rundungen, die fast zu einer Umarmung reizen.
Noch dazu steht der Wohnwagen per se für eine bestimmte
Lebenshaltung und Kultur, die jeder kennt. Er ist eine mobile
Zelle, mit der man auf Achse sein kann. Ein Wohnwagen
erlaubt es Land und Leute, die Natur, Abenteuer, neue
Welten, das Fremde zu erleben und eben dennoch immer
daheim zu sein. In der behaglichen kleinen 'Knutschkugel',
aus der abends das tröstliche Licht (der Flimmerkiste)
nach außen dringt, ist bei aller Abenteuerlust und allem
Fernweh eine sichere und heimelige Atmosphäre gewahrt.
Man ist bei sich und dennoch fort. Susanne Stövhase
begreift einen Wohnwagen als eine analoge Bilderzeugungs-
maschine, in dem die Fenster tagsüber die Bilder des Außen
liefern. Insofern ist ein Wohnwagen eine "Kodiermaschine"
zwischen Mensch und Natur, ein individuelles Vehikel und
eine Metapher für die Wahrnehmungskonditionierung der
Begegnung mit dem Fremden - in diesem Fall mit dem
Fernseher, mit einer anderen Bilderzeugungsmaschine. Der
Wohnwagen in seiner knuffigen Gestalt und nicht zuletzt die
Tanzmusik haben einen starken Einfluss auf das Lesen der
Theoriezitate, die diese Bild/Texterzeugungsmaschine
vorweist. Und plötzlich ist eine seltsame Verschiebung im
Prozess des Verstehens unausweichlich. Es ist jenes
(Hoffnung spendende) Phänomen einer gelingenden
punktuellen kommunikativen Annäherung, die zum Beispiel
zwei miteinander tanzende Menschen erleben. Heinz von
Foerster spricht von der "selbstreferentiellen Bewegung"
des Tanzes. "Wirklichkeit wird zur Gemeinsamkeit und zur
Gemeinschaft. Man entscheidet sich nicht programmatisch
dafür, jetzt zu tanzen, sondern tut es, man tanzt ganz
einfach. Und plötzlich dreht man sich, sieht wieder etwas
Neues, gänzlich unerwartetes. [...] Der Tanz ist das Ziel des
Tanzes. Der Tanz entsteht durch das Tanzen."

Geht es Susanne Stövhase bei einer Reihe ihrer künstle-
rischen Arbeiten um Fragen des Verstehens und Lernens,
so gehört dazu auch ihre Beschäftigung mit der
Kommunikation zwischen und mit Pflanzen. Überdeutlich
offenbart diese Auseinandersetzung die Ausweglosigkeit,
die darin liegt, dass wir anderen Kreaturen immer nur mit den
eigenen Kriterien begegnen können. Mit "Biologie der Realität/
Camouflage" entwirft sie drei humorvoll-abgründige,
großformatige Malereien auf Papier, mit denen die Strategie
des Oberflächentrugschlusses eine frappierend konkrete
Demonstration erfährt. Zu sehen sind große bambusartige
Gewächse auf weißem Grund. In ihrer Darstellung sind sie
zunächst durchaus gefällig, ein wenig altbacken erinnern sie
mit ihrer Präsentation in tiefen Rahmen an die Ästhetik eines
Herbariums. Was irritiert - auch wenn es möglicherweise erst
auf den zweiten Blick realisiert wird - ist die Hinterlist der
dargestellten Gewächse, deren Tarn- und Abwehrverhalten.
Die Pflanzen kehren ein Spiel wieder um, sie schlagen zurück.
Von der Natur hatte der Mensch - zuallererst waren es bezeich-
nenderweise die Künstler - die Mimikry-Strategie gelernt und
funktionalisiert: Die Täuschung eines Signalempfängers durch
ein nachgeahmtes 'gefälschtes' Signal. Was nun, und darin
liegt die Beunruhigung, wenn die Pflanzen nun eben dieses
wieder in ihre Erscheinungsform re-integrieren würden?
Mit der Idee, die hinter wissenschaftlichen Systemen (und
ihrem Ausdruck z.B. in Herbarien) steht, ist noch der Gedanke
von eindimensionalem Verstehen, Lernen und Beherrschen
verbunden. Jetzt kommen Zweifel auf. Die Natur schlägt
zurück. Was zunächst schmunzeln lässt - der Tarnlook der
Bambusartigen - wird zu einem schwer deutbaren Vexierspiel
zwischen der Bambusartigen Selbstdarstellung, Verteidigung
und Angriff.
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